Schneller, größer, süßer! Ist unser Obst & Gemüse verarmt an Nährstoffen?

Pascal Pape

Die Debatte um den Nährstoffverlust in Obst und Gemüse

Obst und Gemüse sind ein unentbehrlicher Teil jeder gesunden Ernährung. Sie liefern wichtige Mineralstoffe, Vitamine, Antioxidantien und sogenannte Phytonährstoffen (sekundäre Pflanzenstoffe). Die USDA empfiehlt für eine gesunde Ernährung mittlerweile jeden Tag mindestens rund 3 Portionen Obst und 4 Portionen Gemüse zu essen, wobei eine Portion ungefähr einer 100-150 Gramm entspricht.

Die wenigsten schaffen es überhaupt, dieses Minimum von sieben Portionen zu erreichen. Doch wer es schafft, fragt sich „reicht das?“ Reicht das, um den Körper optimal mit Nährstoffen, wie Vitamin C, Calcium und Magnesium, zu versorgen?

Oder ist unser Obst und Gemüse etwa an Nährstoffen verarmt? Hier gibt es zwei Lager. Verfechter und Verkäufer von Nahrungsergänzungsmitteln auf der einen Seite, öffentliche Institutionen und Standard-Medien auf der anderen. Die einen wollen ihre Produkte verkaufen, die anderen wollen vor allem Ruhe im Kasten bewahren.

Leider finden wir aus diesem Grund extrem viel Propaganda und zwar von beiden Seiten. Was stimmt denn nun und wie sieht die Realität aus? In diesem Artikel fühle ich den verschiedenen Argumenten auf den Zahn.

Mineralstoff- und Vitamingehalt von Obst und Gemüse – früher und heute

Sehen wir uns zunächst die Fakten an. Hat sich der Nährstoffgehalt in Obst und Gemüse über die letzten Jahrzehnte verändert? Wenn ja, wie viel? Dazu ziehe ich eine „neutrale“ Tabelle heran, die vom Lebensmittelministerium Bayern zur Verfügung gestellt wird. Hier die Analyse der Tomate. (Bei Vitamin E liegen von 1954 keine Daten vor, deshalb habe ich den Wert von 1976 verwendet.)

Vitamin- und Mineralstoffgehalt der Tomate

(g, mg, µg auf 100g essbaren Anteil)

Das Ministerium fasst die Tabelle wie folgt zusammen: „Insgesamt lässt sich aus den vorliegenden Werten keine Tendenz zu sinkenden oder steigenden Nährstoffkonzentrationen ausgewählter Lebensmittel in dem angegebenen Zeitraum feststellen.“

Bitte? Sprechen wir von derselben Tabelle? Eigentlich ist unschwer erkennbar: Die Tomate ist nicht mehr das, was sie einmal war. Ein Verlust von 87% an Calcium? Kann das überhaupt sein?

Sind unsere Böden an Nährstoffen verarmt?

Das erste Argument ist: „Unsere Böden sind verarmt an Nährstoffen!“ Wenn also schon die Ackerböden verarmt sind, wie kann dann überhaupt saftiges und gesundes Gemüse entstehen?

Dieser Vorwurf ist naheliegend, steht jedoch auf wackeligen Beinen. Etliche Blogs im Internet erklären einem, dass der Rio Earth Summit 1992 angeblich unfassbare Ergebnisse hervorgebracht hat. Hierin soll man lesen können, dass die Böden in Europa zum Beispiel 72% ihrer Mineralstoffe verloren haben. Wer sich jedoch den Earth Summit durchgelesen hat, findet diese Zahlen komischerweise mit keinem Wort erwähnt.

Naheliegend ist die Annahme dennoch, da der übermäßige Ackerbau unsere Böden zunehmends an Nährstoffen beraubt, worauf dieser langfristig unfruchtbar wird. Das weiß jeder Bauer, denn für dieses Problem wurde schließlich der Dünger erfunden.

Was gerne unerwähnt bleibt: Es gibt über 70 verschiedene Nährstoffe, die von Pflanzen aufgenommen werden. Die Grunddüngung im Ackerbau enthält jedoch lediglich drei Mineralstoffe, die gerade ausreichen, damit Pflanzen überleben und hübsch aussehen. Namentlich sind das Kalium, Magnesium und Phosphor.

Nur weil eine Pflanze gerade genügend Versorgung zum Überleben erhält, heißt das nicht, dass sie auch viele Nährstoffe für eine gesunde Ernährung enthält. Dennoch konnte ich leider keine handfesten Belege für die Theorie der ausgelaugten Böden finden.

Vermutungen legen nahe, dass unsere Böden in der Tat an etlichen Nährstoffen verarmt sein könnten. Ich konnte jedoch bis jetzt noch keine verlässliche Studie für die Bestätigung dieser Annahme finden.

Schwankungsbereich und ungenaue Messmethoden

Das Lebensmittelministerium und auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung haben dagegen zwei simple Argumente, die den Nährstoffverlust erklären sollen. Das sind…

1) Der Schwankungsbereich

Um es den Bürgern möglichst leicht zu erklären, hat man einfach einen sogenannten „natürlichen Schwankungsbereich“ ins Leben gerufen. Bei Vitamin E liegt dieser Schwankungsbereich in der obigen Tabelle zum Beispiel bei bis zu 1210µg. Nachdem die Tomate früher messbar 1200µg enthalten hat und heute immernoch satte 540µg enthalten sind, können öffentliche Institutionen also alle Sorgen wegblasen: Das liegt alles im natürlichen Schwankungsbereich.

Schwankungsbereich von Vitamin E der Tomate:

Ich brauche wohl nicht zu erklären, dass selbst 0µg Vitamin E noch im Schwankungsbereich liegen würden. Sehr praktisch. Einen größeren Unsinn habe ich selten gehört.

2) Die Messmethoden

Man macht schlicht die ungenauen Messmethoden von früher verantwortlich. Da stellt sich die Frage, warum verwendet man nicht einfach die alten Messmethoden, um Werte direkt miteinander vergleichen zu können?

Die Antwort ist einfach, denn auch diese Rechtfertigung ist an den Haaren herbeigezogen. So erklärt Food Comission Director Tim Lobstein: „Mineralien sind bereits seit dem 19. Jahrhundert leicht zu ermitteln und zu messen. Es ist nahezu unmöglich, dass sich die Methoden derart stark verändert hätten, was diesen riesigen Unterschied erklären würde.“

Ein paar Prozent ließen sich also durch eine veränderte Messgenauigkeit begründen, jedoch nicht zum Teil über 90% Verlust an Vitaminen und Mineralstoffen.

Der Versuch von Ministerien oder der DGE den Nährstoffverlust schönzureden scheitert kläglich. Der Schwankungsbereich ist keine Rechtfertigung und Mineralstoffe waren selbst im 19. Jahrhundert bereits leicht messbar.

Weniger Vitamine durch Transport und Lagerung

Ein weitläufig bekanntes Argument sind ungünstige Bedingungen bei Transport und Lagerung von Obst und Gemüse. Vor allem Vitamine sind anfällig für lange Lagerzeiten oder Temperaturunterschiede. Hier sind sich ausnahmsweise mal alle einig und dieses Argument bestreitet nicht einmal das Ministerium, erwähnt es aber nur am Rande. Ganz so harmlos ist dieser Verlust aber definitiv nicht.

Eine Studie hat zum Beispiel Brokkoli analysiert und wie sich der Nährstoffgehalt verändert, bis dieser bei uns überhaupt im Supermarkt ankommt, was durchschnittlich sieben Wochen später ist. Der Brokkoli wurde Ratten zum fressen gegeben und die Wirkung auf Krankheiten beobachtet. Das Ergebnis der Studie ist erschreckend: Der Brokkoli hatte seine vor Krebs schützenden Eigenschaften verloren, sowie das Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfall zu vermindern.

Auch andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Spinat verliert sämtliche Antioxidantien innerhalb von nur einer Woche. Kohl verliert bei Raumtemperatur bereits innerhalb von zwei Tagen 60-89% seines ursprünglichen Vitamin-C-Gehalts.

Wird Euer Obst und Gemüse im Supermarkt bei unter 2°C gekühlt gelagert? Vermutlich nicht. Warum? Entweder geschieht es aus bloßer Unwissenheit oder um Kosten zu sparen. Dass es permanent gekühlt werden sollte – und zwar sowohl während des Transportes, als auch während der Lagerung – ist unbestreitbar Fakt.

Selbst sogenannte „regionale“ Äpfel werden oft über fünf Monate und teilweise bis zu zwei Jahre gelagert. Und das obwohl laut Studien ein Apfel in sechs Wochen (selbst gekühlt gelagert) bereits 60% seines Vitamin-C-Gehalts verliert.

Was geschieht durch die lange Lagerung aus biologischer Sicht gesehen? Der Zuckergehalt steigt, der Vitamingehalt sinkt. Simpel und messbar. Es verwundert also nicht, dass bis Obst und Gemüse bei uns auf dem Teller landet, oft nur noch Spuren von Vitaminen zu entdecken sind.

Obst und Gemüse verliert durch Lagerung und Transport viele Vitamine und andere Nährstoffe, die vor Krankheiten schützen.

„Schneller, größer, süßer!“ – Der wahre Grund für chronischen Vitaminmangel

Ein weiterer entscheidender Grund ist weit weniger bekannt, wird aber indirekt vom Lebensmittelministerium erwähnt. Der natürliche Schwankungsbereich entsteht durch Artenvielfalt und unterschiedliche Sorten. Tomate ist nicht gleich Tomate. Das heißt, es gibt nährstoffreiche Tomatensorten und eher nährstoffarme Tomatensorten.

Dabei vergisst man jedoch zu erwähnen, dass unsere Lebensmittel absichtlich selektiert werden. Wir Menschen selektieren und manipulieren unsere Lebensmittel nach Geschmack, Größe, Aussehen und Wirtschaftlichkeit.

Gemüse muss schnell wachsen und sich billig verkaufen lassen. Tomaten müssen möglichst groß sein. Äpfel müssen möglichst saftig und süß sein. Das ist die Devise, nach der wir anbauen, unsere Lebensmittel aussuchen und hochzüchten.

Das geschieht jedoch auf Kosten der Nährstoffe. Niemand achtet auf wichtige Vitamine oder gar Mineralstoffe, weil es nicht auf die kleinen roten Rabattschilder passt. Alles was zählt sind:

  1. Optik
  2. Preis
  3. Geschmack

Blöd nur, dass die gesündesten Lebensmittel nunmal nicht immer süß schmecken, sondern häufig bitter oder sauer. Denn die meisten Nährstoffe liegen nicht im süßen Fruchtfleisch, sondern in der Schale und den Kernen von Früchten. Fruchtfleisch ist süß, Schale schmeckt fad und Kerne schmecken bitter.

Mehrfach sind unabhängige Wissenschaftler, wie Dr. Davis von der University of Texas, der Überzeugung: Durch unsere Anbaumethoden haben wir Menschen, im Laufe der Zeit, Nährstoffe gegen Größe eingetauscht. Das ist ein Hauptgrund für den messbaren und extremen Abfall von Nährstoffen in Obst und Gemüse. So schreibt ein Reporter der New York Times:

„Tatsächlich habe ich Pflanzenzüchter der USDA interviewt, die Jahrzehnte oder mehr damit verbracht haben, neue Sorten von Birnen oder Karotten zu züchten, ohne auch nur ein einziges Mal den Nährwert zu messen.“

Der Ursprung unserer Äpfel

Nehmen wir als Beispiel die Entwicklung und den Ursprung unserer Äpfel. Unsere heutigen Äpfel stammen von Wildäpfeln ab. Diese sind deutlich kleiner, besitzen einen langen Stiel und sehen ein bisschen aus wie Kirschen. Wie oben beschrieben: Eben weil sie so klein waren, enthielten sie deutlich weniger süßes Fruchtfleisch und schmeckten sehr bitter.

Im Supermarkt würde so ein Wildapfel kaum Beachtung finden und vermutlich im Regal verschimmeln – weil „der schmeckt ja nicht“. Unsere Vorfahren dagegen, die Jäger und Sammler, ernährten sich jeden Tag von wilden und frischen Äpfeln, statt sie beim Aldi zu kaufen.

Doch wie schneiden moderne Apfelsorten, die wir im Supermarkt kaufen können, im Vergleich zu wilden Äpfeln ab? Wie groß ist der Unterschied zwischen wild und angebaut? Was denkst Du? Doppelt so viele Nährstoffe? Dreimal so viele?

Halt Dich fest: Eine wilder Apfel enthält bis zu 100 mal mehr Antioxidantien. Antioxidantien sind essenzielle Nährstoffe, die unseren Körper vor freien Radikalen (oxidativem Stress) schützen. Antioxidantien sind die wichtigsten Nährstoffe für eine langfristig intakte Immunabwehr. Erhalten wir zu wenige Antioxidantien, so können freie Radikale unsere Zellen oder selbst die DNA angreifen.

Hier ein Bild, was für Nährstoffbomben wilde Äpfel waren und welche Sorten wir mittlerweile im Supermarkt kaufen können. Die Unterschiede sind enorm. Beliebte Äpfel wie der Golden Delicious sind zwar unheimlich süß und sehen im Regal hübsch aus, von der gesundheitlichen Perspektive aus betrachtet, reichen sie dagegen bei weitem nicht an die Nahrungsmittel unserer Vorfahren heran.

Kernlose Trauben, große Tomaten, Spinat, …

Der Apfel ist jedoch keineswegs ein Ausnahmefall, sondern die Regel. Ein sehr gutes Beispiel sind kernlose Trauben. Vor einigen tausend Jahren fand jemand in Persien eine Traubenmutation ohne Kerne und war begeistert. Heute noch isst ein Großteil der Menschen diese Trauben, ohne zu wissen, dass sie kaum bis keine oligomeren Proanthocyanidine (OPC) enthalten. Der Phytonährstoff OPC ist jedoch eines der stärksten bekannten Antioxidantien und der ausschlaggebende Faktor, der Trauben besonders gesund macht und Rotwein seine herzschützende Funktion verleiht.

Bei Gemüse verhält es sich ähnlich. Einige wilde Tomaten enthalten 15 mal mehr des Pflanzenstoffs Lycopin. Studien deuten auch bei diesem Stoff auf eine herzschützende Wirkung hin. Lycopin ist ebenso ein starkes Antioxidant. Wilder Löwenzahn hat rund achtmal so viele Antioxidantien im Vergleich zu Spinat aus unserem Supermarkt. Und und und.

Egal wo man hinschaut, unsere Supermarktlebensmittel enthalten viel Zucker, sind groß und saftig. Im Gegenzug enthalten sie nur wenige bis lediglich Spuren an Nährstoffen. Das gilt übrigens selbst für Bio-Lebensmittel, im Vergleich zu wilden Sorten, verlieren auch sie das Nährstoff-Duell haushoch.

Die Selektion und Züchtung nach Größe und Geschmack hat zu einer drastischen Verarmung an Nährstoffen in Obst und Gemüse geführt.

Fazit: Fakten, keine Verschwörungstheorien

Viele gesundheitsbewusste Menschen wissen gar nicht, dass eine natürliche Ernährung heute nicht nur schwierig, sondern kaum noch realisierbar ist. Das fällt nicht unter esoterische Verschwörungstheorien, sondern ist Fakt.

Wir haben uns in den letzten paar tausend Jahren dazu entschieden, vor allem großes und süßes Obst und Gemüse anzubauen und zu konsumieren. Doch damit haben wir unbewusst unsere Nährstoffzufuhr auf einen Bruchteil reduziert. Das gilt auch für weniger bekannte Nährstoffe wie Phytonährstoffe, die kaum noch enthalten sind. Sie erfüllen jedoch wichtige Funktionen im Körper, die unsere Wissenschaftler erst nach und nach entschlüsseln. Phytonährstoffe unterstützen Vitamine bei ihrer Arbeit, manche dieser Nährstoffe verzehnfachen die Wirkung von Vitaminen in unserem Körper.

Der Vergleich mit dem 20. Jahrhundert ist mehr als deutlich und lässt sich nicht bestreiten: Über 70% weniger Vitamin C, über 80% weniger Magnesium und über 90% weniger Vitamin A.

Doch eigentlich sollten wir unsere Lebensmittel nicht mit denen von vor ein paar Jahrzehnten vergleichen, sondern mit wilden Obst- und Gemüsesorten von vor ein paar zehntausend Jahren. Unser Stoffwechsel hat sich über Millionen von Jahren an eine sehr hohe Nährstoffversorgung angepasst. Selbst vor 50 Jahren enthielten unsere Lebensmittel und unsere Ernährung bereits deutlich weniger Nährstoffe.

Das sollte zumindest zu Denken geben. Für mich steht fest: Ich will meinen Körper optimal versorgen und das kann ich nicht, wenn ich mich nur auf moderne Lebensmittel verlasse.

Wie siehst Du das?

Wichtigste Quellen

http://www.vis.bayern.de/ernaehrung/lebensmittel/gruppen/naehrstoffgehalt_pflanzliche_lebensmittel.htm
https://www.landwirtschaft-bw.info/pb/site/lel/get/documents/MLR.LEL/PB5Documents/ltz_ka/pdf/m/Grundd%C3%BCngung%20im%20Ackerbau_ENDG.pdf
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/15637215
http://www.utexas.edu/news/2004/12/01/nr_chemistry/
http://chriskresser.com/could-eating-wild-be-the-missing-link-to-optimum-health
https://www.researchgate.net/publication/222549470_Preharvest_and_postharvest_factors_influencing_Vitamin_C_content_of_horticultural_crops/a>
http://www.theguardian.com/uk/2006/feb/02/foodanddrink
http://www.nytimes.com/2013/05/26/opinion/sunday/breeding-the-nutrition-out-of-our-food.html?pagewanted=all

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